EXISTENZ MAGAZIN 2022  Dr. Christian Schmitt: Seit Januar 2021 besteht die Möglichkeit der Finanzrestrukturierung eines Unternehmens außerhalb eines gerichtsförmlichen Verfahrens, im Ausgangs- punkt inspiriert vom britischen scheme of arrangement: das sogenannte Restrukturierungsverfahren nach dem StaRUG. Mit diesem auf eine finanz-wirtschaftliche Reorganisation der Bilanz durch Haircut der bestehenden Verbindlichkeiten (mit Ausnahme von Personal- und Pensionsverbindlichkeiten) ausgerichteten Instrument haben Unternehmen die Möglichkeit, sich mit ihren Gläubigern bereits in einem vorinsolvenzlichen Krisenstadium auf eine Unternehmenssanierung zu einigen, ohne sich eines förmlichen Insolvenzverfahrens zur Entschuldung bedienen zu müssen. So weit so gut und der interessierten Öffentlichkeit größtenteils bekannt!

Pflichten der Geschäftsleiter

Hingegen noch weitgehend unbekannt scheint den betroffenen Unternehmenslenkern und ihren Steuerberatern zu sein, dass der Gesetzgeber in § 1 dieses Gesetzes zugleich eine Pflicht für Unternehmensleiter zur Krisenfrüherkennung und zum Krisenmanagement neu installiert hat. Auf die Größe und Zustand des Unternehmens kommt es nicht an. Diese Pflicht gilt immer – auch wenn das Unternehmen kein Sanierungsfall ist! Sie trifft rechtsformübergreifend alle Geschäftsleiter juristischer Personen (z. B. den Vorstand einer AG und den Geschäftsführer einer GmbH) und kapitalistischer Personengesellschaften (z. B. den Geschäftsführer des Komplementärs bei einer GmbH & Co. KG). Qua Gesetz nicht verpflichtet sind hingegen Einzelkaufleute, da sie sowieso persönlich für die Schulden des Betriebs ein- zustehen haben. Gleichwohl sollte sich ein Einzelkaufmann schon aus Eigeninteresse die Instrumentarien der Krisenfrüherkennung zu Nutze machen.

Die Unternehmensleiter haben fortlaufend alle Entwicklungen zu überwachen, welche den Fortbestand des Unternehmens gefährden können. Erkennen sie solche kritischen Entwicklungen, haben sie geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen und ihren Überwachungsorganen, z. B. bei der GmbH der Gesellschafterversammlung, unverzüglich Bericht zu erstatten.

Die Pflicht zu Krisenfrüherkennung und Krisenmanagement gilt zusätzlich zu den sonstigen Pflichten der Geschäftsleiter. Die Idee des Gesetzgebers ist es, dass durch die neu im Gesetz installierte Pflicht zur Krisenfrüherkennung und zum Krisenmanagement Insolvenzen vermieden werden können.

Steuerberater als Sparringspartner

Daneben ordnet § 102 StaRUG Hinweis- und Warnpflichten v.a. der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer bei der Erstellung eines Jahresabschlusses auf das Vorliegen eines möglichen Insolvenzgrundes an, wenn entsprechende Anhaltspunkte offenkundig sind und sie annehmen müssen, dass dem Geschäftsleiter die mögliche Insolvenzreife nicht bewusst ist. Diese Hinweis- und Warnpflichten sind ein weiteres Instrument der Krisenfrüherkennung. Damit griff der Gesetzgeber die Rechtsprechung des BGH zur Steuerberaterhaftung auf und erstreckt sie auch auf weitere Berufsgruppen. Der BGH hatte bereits entschieden, dass ein Berater aufgrund seiner speziellen Fachkunde verpflichtet ist, den Mandanten auf die Notwendigkeit einer Prüfung hinzu- weisen, wenn der Berater anlässlich seiner Tätigkeiten das mögliche Vorliegen von Insolvenzgründen erkennt, selbst wenn der Berater nicht mit deren Prüfung beauftragt ist. Die Pflichten aus § 102 StaRUG treffen diejenigen Berater, die mit der Erstellung des Jahresabschlusses beauftragt sind, nicht aber den Abschlussprüfer.

Hinzuweisen ist auf jeden möglichen Insolvenzgrund, also auch bereits auf eine drohende Zahlungsunfähigkeit gem. § 18 InsO. Die Hinweispflicht wird ausgelöst, wenn Anhaltspunkte für eine Krise für den Berater gerade wegen seiner speziellen Sachkunde offenkundig sind. Beispiel könnten der (wiederholte) Ausweis eines nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrags in der Bilanz sein oder das Vorliegen einer handelsbilanziellen Überschuldung ohne Vorliegens stiller Reserven. Auf diese konkreten Umstände hat der Berater hinzuweisen, nicht nur abstrakt auf die allgemeine Notwendigkeit einer Prüfung von Insolvenzgründen.

Anlässlich dieser ihn sowieso treffenden Verpflichtung kann der Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer, der häufig in einem Dauermandat von der Gesellschaft beauftragt ist, pro-aktiv und präventiv den Geschäftsführer des Mandanten zur Einrichtung eines Krisenfrüherkennungssystems anhalten und bei dessen Installation und Umsetzung unterstützen. Für die Beraterschaft ergeben sich so auch weitere Geschäftsfelder, wenn sie diese Leistungen ihren Mandanten anbieten (können).

Ausgestaltung der Krisenfrüherkennung

Krisenfrüherkennung bedeutet die laufende Überwachung von Entwicklungen, die zur Bestandsgefährdung des Unternehmens führen können. Wie diese Pflicht erfüllt werden kann, gibt das Gesetz freilich nicht vor. Hierzu heißt es, dass das Bundesjustizministerium – wie vom Gesetzgeber vorgesehen – demnächst Instrumente zur Krisenfrüherkennung im Rahmen einer Rechtsverordnung zur Verfügung stellen werde – mit einer Verzögerung von mehr als einem Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes!

Im Einzelnen ist daher noch unklar, wie die Krisenfrüherkennung nach dem Willen des Gesetzgebers ausgestaltet werden soll. Ausgang aller Überlegungen ist die These, dass die Handlungsoptionen umso größer sind, je früher nachteilige und ggf. bestandsgefährdende Entwicklungen erkannt werden. Anhaltspunkte für die Ausformung der Krisenfrüherkennung können die bereits für Aktiengesellschaften und Finanzinstitute entwickelten Risikoüberwachungssysteme (vgl. §§107 Abs. 3 AktG, 91 Abs. 2 AktG) oder die vom Institut der Wirtschaftsprüfer etablierten Prüfstandards geben.

Einigkeit herrscht weitgehend dahin, dass die konkrete Ausgestaltung der Pflicht zur Krisenfrüherkennung auf die Größe, Struktur und Rechtsform des Unternehmens, seine Branche und Marktsituation, also das gesamte wirtschaftliche und rechtliche Umfeld des konkreten Unternehmens in sämtlichen Bereichen und Prozessen, angemessen abzustimmen ist. Als Faustregel dürfte gelten: je größer und komplexer das Unternehmen, desto umfangreicher ist zu prüfen. Krisenfrüherkennung kann als Bestandteil eines umfassenden Risikomanagements gesehen werden, welches ausnahmslos auch kleinere und mittlere Unternehmen mit freilich geringerer Prüfungstiefe und Fokus auf die Illiquidität als bestandsgefährdendes Risiko zu implementieren haben.

Hieraus lässt sich als Kern der Krisenfrüherkennung eine betriebswirtschaftlich getriebene Betrachtungsweise ableiten; sie setzt eine integrierte Planung aus Liquiditäts-, Ertrags- und Bilanzplanung voraus. Das erforderliche Zahlenwerk sollte ohne Weiteres aus den sowieso in jedem Unternehmen vorhandenen Daten ableitbar sein (z. B. OPOS Listen der Buchhaltung, etc.).

Das Krisenfrühwarnsystem muss in der Lage sein, die Entwicklungen der verschiedenen Krisenstadien (Stakeholderkrise, Strategiekrise, Produkt- und Absatzkrise, Ertragskrise, Liquiditätskrise) zu erkennen. Potentielle interne und externe Risiken sind zu identifizieren und nach Eintrittswahrscheinlichkeit und Auswirkungen auf die Unternehmensliquidität und damit den Unternehmensbestand zu gewichten.

Wesentliche zu beobachtende Themen sind vorrangig die Entwicklung der Liquidität mit Fokus auf etwaige Forderungsausfälle, Preisentwicklungen bei Vorprodukten und Energiekosten, arbeits- oder steuerrechtliche Risiken, kritische Probleme in der Lieferkette, Materialverfügbarkeit, Pandemie oder durch weltpolitische Krisen bedingte Einflüsse etc.

Im Jahr 2022 spiegelt sich dies alles in der ansteigenden Inflation wider mit sich daraus ergebenden wechselnden Zinsniveaus, zum Beispiel sichtbar an den innerhalb kürzester Zeit stark gestiegenen und noch steigenden Energie- und Transportkosten. So erhöhten sich nach den Ermittlungen des statistischen Bundesamtes bereits in 2021 die durchschnittlichen Erdgaspreise (ohne USt/abzugsfähige  Steuern)

für Unternehmen vom 2. Halbjahr 2020 auf das 1. Halbjahr 2021 um 14,2 %. Verbraucher mit einem Jahresverbrauch über 4 Millionen Gigajoule Erdgas hatten sogar eine Preissteigerung um 41 % hinzunehmen. Das trifft besonders stark energieintensive Produktionsunternehmen z. B. aus dem Bereich der Automobilzulieferer.

Daneben sehen sich die Unternehmen ansteigenden Preisen für Werkstoffe oder Vorprodukte gegenüber, sofern diese überhaupt im ausreichenden Maße geliefert werden können. Die Stichworte hierzu heißen Chipmangel und Magnesiummangel. Aber auch abseits von Hightech leidet beispielsweise die papierverarbeitende Branche unter Materialkostensteigerungen beim Altpapier um 42 % im Vergleich zwischen 2020 und 2021. Notwendige Preiserhöhungen können häufig nicht in der erforderlichen Geschwindigkeit bzw. im erforderlichen Umfang an die Kunden weiter- gegeben werden. All das sind Szenarien, deren Auswirkungen auf die Liquidität und damit den Bestand des Unternehmens im Rahmen der Krisenfrüherkennung zu berechnen sind.

Um den Mindestanforderungen zu genügen, ist rechtsträgerbezogen eine rollierende 24-Monats-Liquiditätsplanung einzuführen – idealiter bzgl. der nächsten 13 Wochen auf Wochenbasis, im Übrigen auf Monatsscheiben. Damit kann die Geschäftsleitung die voraussichtliche Liquiditätsentwicklung im Unternehmen im krisenrelevanten Zeitraum überwachen und dies auch dokumentieren.

Zudem verlangt der Gesetzgeber, dass die Krisenüberwachung fortlaufend erfolgt, was zum Teil als Pflicht zur täglichen Überwachung verstanden wird.

Gegenmaßnahmen / Management der nachteiligen Entwicklungen

Neben der fortlaufenden Pflicht zur Krisenfrüherkennung ist der Geschäftsleiter auch verpflichtet, bei Er-kennen solcher Entwicklungen mit geeigneten Maßnahmen zur Abwehr einer Krise gegenzusteuern, und auch die Überwachungsorgane unverzüglich einzubinden. Je weiter eine Krise fortgeschritten ist, desto engmaschiger sind insbesondere Eigenkapitalquote, Deckungsbeiträge, Cash-Flow und Liquidität zu kontrollieren und steuern.

Haftungsvermeidung

Zum Zwecke der Haftungsvermeidung ist zudem eine ausreichende Dokumentation des Krisenfrüherkennungssystems, der analysierten Risiken und deren Bewertung nach Eintrittswahrscheinlichkeit und potentieller Schadensauswirkung, sowie der zur Gegensteuerung ergriffenen Maßnahmen, durch den Geschäftsleiter erforderlich.

Implementiert ein Geschäftsleiter nicht solch ein Krisenfrüherkennungssystem oder wird ein solches nicht gelebt, verstößt er per se gegen seine Sorgfaltspflichten. Für deswegen eingetretene Schäden kann er dann persönlich haftbar gemacht werden. Dergleichen gilt, wenn er nach Identifikation solcher Krisenelemente keine geeigneten Maßnahmen zum Gegensteuern einleitet, oder die Überwachungsorgane nicht unverzüglich involviert. Ohne Krisenfrühwarnsystem wird er sich bei seinen unternehmerischen Entscheidungen auch nicht mehr auf den safe haven der sog. business judgement rule berufen können. Denn er wird sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, seine Entscheidungen ohne valide Daten- und Informationsbasis getroffen zu haben. Dies trifft auch Geschäftsführer sog. KMUs. Das Gesetz macht hier keinen Unterschied. Weiter könnte der Geschäftsführer seinen Deckungsschutz bei der D&O-Versicherung gefährden, wenn die Police ein entsprechend eingeführtes Krisenfrüherkennungssystem fordert.

Fazit

Es empfiehlt sich daher dringend, sich mit dem Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer des Unternehmens oder anderweitiger geeigneter Berater zur Einführung und Umsetzung eines solchen Krisenfrühwarnsystems ab- zustimmen.

 

Der Artikel ist im EXISTENZ MAGAZIN ’32/2022 erschienen.