F.A.Z. – Unternehmen
Montag, 31.08.2020

von Christian Gerloff

Die meisten anderen Länder kommen ohne den Insolvenzgrund der Überschuldung aus.
Die große Koalition in Berlin hat beschlossen, dass die seit März 2020 wegen der Corona-Pandemie ausgesetzte Insolvenzantragspflicht teilweise bis Ende dieses Jahres verlängert wird. Bis Ende September besteht noch die bisherige Aussetzung sowohl für den Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit als auch den der Überschuldung, sofern man nachweisen kann, dass die wirtschaftliche Krise pandemiebedingt ist. Von Oktober an betrifft die Aussetzung nur noch den Insolvenzgrund der Überschuldung. Besteht darüber hinaus oder auch nur Zahlungsunfähigkeit, gilt wieder die gesetzliche Verpflichtung zum Insolvenzantrag.


Dieser Schritt wird von Insolvenzverwaltern teilweise heftig kritisiert. Sie verweisen darauf, dass notwendige strukturelle Veränderungen, die unabhängig von der Pandemie anstanden, dadurch verzögert werden und sogenannte Zombieunternehmen entstehen. Dabei ist der Insolvenzgrund der Überschuldung seit geraumer Zeit ohnehin bei den Restrukturierern umstritten; Rechtsordnungen anderer Länder kennen diesen Insolvenztat-bestand zumeist überhaupt nicht. Die Frage ist also, ob der Tatbestand Überschuldung nicht grundsätzlich aus der Insolvenzordnung gestrichen werden sollte.


Die Überschuldung sagt eigentlich nichts anderes aus, als dass mehr rechtliche Verbindlichkeiten und Verpflichtungen bestehen als Vermögenswerte vorhanden sind. Dabei ist eine bilanzielle Betrachtungsweise zu einem Stichtag vorzunehmen, die in der Praxis zu vielen Bewertungs- und Abgrenzungsfragen führt. Wie bewertet man ein Grundstück oder einen nicht bilanzierten Vermögensgegenstand wie beispielsweise eine selbstgeschaffene Marke? Die damit verbundenen Unsicherheiten führen zwangsläufig zu Haftungsrisiken des Managements.


Verschärft wird dies dadurch, dass eine Überschuldung aus insolvenzrechtlicher Sicht unbeachtlich ist, wenn eine positive, zu testierende Fortbestehensprognose besteht. Für eine solche muss das Unternehmen für das laufende und das darauffolgende Geschäftsjahr durchfinanziert sein. Hierzu ist eine für diesen Zeitraum aufzustellende detaillierte Liquiditätsberechnung notwendig, die laufend fortzuschreiben ist. Die dafür zu treffenden Planannahmen, von deren Eintritt das Management mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ausgehen muss, sind ebenfalls mit hohen Risiken behaftet. Stellen sich die Annahmen als unzutreffend heraus, stellt sich die Frage, ob lediglich die Prognosen nicht eingetroffen sind oder aber die Annahmen von vornherein falsch waren. Dann hätte die Fortbestehensprognose möglicherweise bereits früher wegfallen und der Insolvenzantrag entsprechend früher gestellt werden müssen.


In der Praxis kann dies dazu führen, dass der Zeitraum für eine Restrukturierung massiv verkürzt wird. Nehmen wir an, bei einem Unternehmen besteht wegen einer positiven Fortbestehensprognose trotz Überschuldung insolvenzrechtlich keine Antragspflicht. Bei dem Unternehmen wird jedoch Ende nächsten Jahres ein großer Kredit oder eine Anleihe fällig. Dann hängt der Bestand der Fortbestehensprognose davon ab, ob das Management aufgrund konkreter Annahmen heute davon ausgehen kann, dass eine Refinanzierung, Stundung oder andere Lösung gefunden werden wird. Anderenfalls besteht sofortige Antragspflicht, selbst wenn das Unternehmen aktuell alle Verbindlichkeiten zahlen kann.


Angesichts all dieser Unschärfen kann bei Überschuldung als Insolvenzgrund das eigentliche Ziel, durch frühzeitiges Einleiten eines Insolvenzverfahrens die Gläubiger zu schützen, nur noch schwer erfüllt werden. Eine leichte Überschuldung suggeriert den Gläubigern eine hohe Befriedigungsquote, was aber durch teilweise Abwertungen der Vermögensgegenstände durch das Insolvenzverfahren und die entstehenden Verfahrenskosten nicht eintreffen muss. Die Überschuldung stellt von ihrem Ansatz her auf die Befriedigung der Gläubiger aus der bestehenden Substanz ab. In den vergangenen Jahrzehnten wurde aber immer stärker die Sanierung des Unternehmens in den Vordergrund gestellt. Die Befriedigung der Gläubiger soll dabei mehr aus den künftigen Erträgen erfolgen, was bereits ein Stück weit durch das Instrument der positiven Fortbestehensprognose abgebildet wird.


Von daher ist es richtig, dass bei der weiteren Aussetzung der Insolvenzantragspflicht nach den beiden Antragsgründen differenziert wird. Eine weitere Aussetzung wegen Zahlungsunfähigkeit würde zu starken Marktverzerrungen führen, denn bei einer Zahlungsunfähigkeit kann das Unternehmen schon jetzt nicht mehr seine Gläubiger bezahlen. Die weitere Aussetzung der Antragspflicht bei Überschuldung sollte demgegenüber aber nicht nur bis Ende 2020, sondern sogar bis Mitte 2021 verlängert werden. Denn das wäre eine gute Gelegenheit zu testen, ob Deutschland nicht ganz ohne diesen Insolvenzgrund auskommen kann, so wie die meisten anderen Länder. Bis Sommer 2021 ist zudem die Europäische Restrukturierungsrichtline in deutsches Recht umzusetzen, die unter bestimmten Bedingungen die Restrukturierung eines Unternehmens mit seinen Gläubigern gerichtsnah, aber ohne Insolvenzverfahren ermöglicht. Beide Reformen zusammen könnten ein zeitgemäßes Konzept ergeben, das dem Gläubigerschutz ebenso Rechnung trägt wie dem Ziel, Unternehmen zu restrukturieren und Arbeitsplätze zu erhalten. Die Gefahr, dass bis dahin weitere „Zombieunternehmen“ entstehen, ist übrigens relativ. De facto bestehen diese durch die anhaltende Niedrigzinspolitik, die geradezu zur Verschuldung einlädt – schon lange vor Corona. Geld kostet ja nichts.